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Warum die Cumarin-Wochendosis mit zunehmendem Alter abnimmt

Etwa 850.000 Menschen nehmen in Deutschland regelmäßig aus unterschiedlichen Gründen Vitamin-K-Antagonisten (Phenprocoumon) ein. In der Schweiz ca. 50.000 und in Österreich ca.100.000.  Zunehmend werden zwar seit etwa fünf Jahren auch bei etlichen Indikationen die sog. Neuen- oder Direkten Oralen Antikoagulantien (NOAK, DOAK) eingesetzt. Der Anteil der Patienten, welche Vitamin-K-Antagonisten (Phenprocoumon, Acenocoumarol, Warfarin) einnehmen, wird somit zwar etwas kleiner, aber viele betroffene Menschen wollen aus Gewohnheit oder dürfen aus medizinischen Gründen nicht darauf verzichten. Selbst in der Ärzteschaft wird sinnvoller Weise noch mehrheitlich, wenn auch in abnehmender Tendenz, eine erforderliche orale Antikoagulation mittels Vitamin-K-Antagonisten und den damit notwendigerweise verbundenen Testungen der INR (International Normalized Ratio) durchgeführt.                                                                                                               

Etliche Menschen, die z.B. Vitamin-K-Antagonisten bereits über viele Jahre oder gar Jahrzehnte eingenommen haben, werden festgestellt haben, dass ihre Wochendosis des Vitamin-K-Antagonisten (z.B. Marcumar®, Falithrom® ) sich kontinuierlich verringert hat, um eine INR im festgelegten therapeutischen Bereich zu erreichen. Manche Menschen berichten über eine Abnahme der Wochendosis von bis zu 30% der ursprünglich festgelegten Wochendosis.                                                                                                              

Pharmakologische/Ernährungs-Verhältnisse:

Vitamin K ist für die Aktivierung verschiedener primär inaktiver Gerinnungsfaktoren (II, VII, IX, X, Protein S und -C) in der Leber essentiell. Phenprocoumon hemmt diesen Aktivierungsprozess dosisabhängig. Hierdurch wird verständlich, dass ein Überangebot von Vitamin K zur Bildung eines Überangebotes aktivierter Gerinnungsfaktoren, und ein Überangebot von hemmendem Phenprocoumon zur Abnahme desselben führt. Dieser Umstand zeigt die Wichtigkeit einer möglichst konstanten Vitamin-K-Zufuhr durch eine Ernährung mit Vermeidung exzessiver Dosisschwankungen. Bei einer ausgewogenen Ernährung ist der Einfluss von Vitamin K, das über die Nahrung aufgenommen wird, gering. Ein weiterer Vorteil des regelmäßigen Verzehrs von Obst und Gemüse: sie stabilisieren die INR-Werte.

Was macht mein Körper mit Phenprocoumon? (Pharmakokinetik)

Es gibt weitere Erklärungen für das Erfordernis einer Phenprocoumon-Dosisverminderung aus verschiedenen Bereichen, die allerdings alle einzeln oder gemeinsam eine Änderung der Pharmakokinetik der VKA bewirken können. Unter der Voraussetzung einer absolut konstanten Einnahme von in ihrer Zusammensetzung identischen VKA-Tabletten muss von einer Änderung eines oder mehrerer Schritte im Gesamtprozess der Verarbeitung des Pharmakons (Wirkstoff) im Körper ausgegangen werden; dieses sowohl bzgl. der initialen Metabolisierung (Verstoffwechselung) als auch der Elimination. Insbesondere die altersabhängig abnehmende Metabolisierung durch Abnahme der Kapazität der Cytochrom P-450-Enzyme und des Transportproteins  P-gp führen zu einer verminderten Metabolisierung des Pharmakons, damit zur Verminderung des inaktivierten Pharmakon-Anteils, gleichbedeutend zu einem Anstieg des wirksamen Pharmakon-Anteils mit der Folge des erhöhten Blutungsrisikos.

Ein kleiner Anteil (ca. 15%) des aktiven Pharmakons wird unverändert im Urin ausgeschieden. Das bedingt einen Anstieg des Medikamentenspiegels bei altersbedingter Abnahme der Nierenfunktion und manifester Niereninsuffizienz.

Diesen Umständen kann als Folge nur mit einer kontrollierten Dosisverminderung des VKA-Medikamentes begegnet werden. Bei den aufgeführten pharmakokinetischen Verhältnissen dürfte es sich um die Hauptursachen für die Notwendigkeit handeln, im Alter die mittlere Phenprocoumon-Wochendosis zu reduzieren.

Zusatzmedikation/ Pharmakodynamik:

Neben der altersabhängig abnehmenden Metabolisierung bzw. Elimination des Phenprocoumon führen natürlich auch andere Faktoren zu einer Abnahme der Cytochrom P-450-Kapazität. Dieses z.B. durch partielle Hemmung im Rahmen der mit zunehmendem Alter häufigen Zunahme der Medikationen bis hin zur Polypharmazie bei Behandlungsnotwendigkeit von Multimorbidität (Antibiotika, Antimykotika, Calciumantagonisten, Lipidsenker, Allopurinol, NSAR  u.v.m.) und häufig zusätzliche Eigenmedikationen mit z.B. Kräuterextrakten und Ähnliches.

Leider kann auch nicht in jedem Falle davon ausgegangen werden, dass die Zusammensetzung des VKA-Medikamentes über die Zeit immer absolut konstant identisch ist. Nicht nur ist die Zusammensetzung der Tabletten bei unterschiedlichen Herstellern unterschiedlich, auch innerhalb einer Produktionsstätte kommt es gelegentlich zu geringen Änderungen der Zusammensatzung mit Auswirkungen auf die Pharmakodynamik (Wirkung von Arzneistoffen) Pharmakodynamische Veränderungen können selbst durch minimale Änderungen der Tablettenzusammensetzung bzw. Molekülstruktur zu einer verstärkten OAK mit Notwendigkeit einer Dosisreduzierung führen. Dieses begründet die unbedingte Empfehlung, die OAK in der Einstellungsphase und anschließend so lange wie möglich mit dem identischen VKA-Produkt aufrecht zu halten. Diese Empfehlung bezieht sich speziell und besonders auch auf Situationen mit Bevorratungsbedarf (z.B. Urlaub, Krankenhaus-Aufenthalt etc.).

Körperliche Aktivität:

In einzelnen Studien ist belegt, dass auch körperliche Aktivität über eine dadurch vermehrt induzierte Kapazität der Cytochrom P-450-Enzyme eine größere VKA-Medikamentendosis zur Erreichung der gewünschten INR erforderlich macht. Eine Dosisanpassung/-verminderung der VKA-Medikation ist im Umkehrschluss dadurch bei im Alter abnehmender körperlicher Aktivität erklärbar.

Aus dem Gesagten ist erkennbar, dass bei der Vielzahl der Faktoren, die zu einer individuellen Dosisfindung zur Erreichung und Aufrechterhaltung des gewünschten INR führen, weder ein für alle gültige, zuverlässige mathematische Formel errechenbar ist noch eine individuelle Vorhersage zur vermutlich erforderlichen OAK-Dosis bzw. altersabhängigen Dosisverminderung trotz vieler diesbezüglicher Untersuchungen möglich ist.

Es bleibt bei der Empfehlung zur vorsichtigen OAK-Aufdosierung und -Dosisänderungen unter INR-Kontrolle, letzteres insbesondere vermehrt unter sich verändernden Lebensbedingungen.

Dr. med. Egbert Schaefer, Arzt f. Innere Medizin, Bennigser Weg 5, D-31832 Springe