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Patientenverfügung - Wenn Krankheit alles verändert

Sollen nach einem Hirnschlag mit einer schweren Schädigung des Gehirns lebenserhaltende Massnahmen umgesetzt werden? Sollen bei einem Herzkreislaufstillstand während eines chirurgischen Eingriffs bei einer Patientin mit einer unheilbaren, fortschreitenden Krankheit Reanimationsversuche unternommen werden? Oder bei einer fortgeschrittenen Demenzerkrankung eine Lungenentzündung mit Antibiotika behandelt werden? Bei der Behandlung und Pflege verunfallter oder schwerkranker Menschen stehen Ärzte sowie Angehörige häufig vor der Frage, wie weit die Behandlung gehen soll, und vor dem Entscheid, ob lebenserhaltende Massnahmen eingesetzt werden sollen. Mit einer Patientenverfügung kann man schriftlich festhalten, wie man medizinisch behandelt werden möchte, sollte man einmal nicht mehr selbst entscheiden können.

Die Patientenverfügung wird vielerorts als Kampfinstrument gegen eine allmächtige Medizin angesehen.

Weniger bekannt ist, dass sie ursprünglich einen „pazifistischen“ Hintergrund hatte. Patientenverfügungen sollen die Arzt-Patienten-Vertreter-Beziehung stärken und nicht auseinanderreissen. Der Begründer der Patientenverfügung war der international renommierte amerikanische Jurist und Menschenrechtler Luis Kutner. Im Jahr 1961 gründete er zusammen mit Peter Benenson die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Die Idee der Patientenverfügung hat Kutner im Jahr 1969 aufgegriffen. Er wollte ein Instrument schaffen, das es dem Behandlungsteam erlaubt, urteilsunfähige Patienten nach deren Vorstellungen und Wünschen zu behandeln und zu betreuen. In seinem Konzept spielte das Vertrauen zwischen allen an der Entscheidung Beteiligten, Patienten, Angehörigen sowie Behandelnden, eine wichtige Rolle.

Patientenverfügungen sind kein Misstrauensvotum gegenüber Ärzten

Eine Patientenverfügung hat drei Funktionen:

  • Sie ist ein Reflexionsinstrument, das dazu dient, sich Gedanken über die gewünschte  Behandlung und Pflege bei einer Urteilsunfähigkeit zu machen.
  • Sie ist ein Kommunikationsinstrument, das es der verfügenden Person erleichtern soll, emotional schwierige Gespräche über die Art des Lebensendes mit der betreuenden Ärztin und den Angehörigen zu führen.
  • Schließlich ist die Patientenverfügung ein Entscheidungsinstrument, das die Aufgabe hat, das Behandlungsteam und die vertretungsberechtigten Person dabei zu unterstützen, im Sinne des urteilsunfähigen Patienten zu handeln

Nur handlungsweisende Patientenverfügungen sind hilfreich

Um Verfügenden bei der Erstellung einer Patientenverfügung zu unterstützen, bieten zahlreiche Organisationen Patientenverfügungsformulare an. Die Versuchung ist oft gross, das Erstellen einer Patientenverfügung schnell hinter sich zu bringen und lediglich eine Kurzfassung auszufüllen. Das Behandlungsteam soll aber der Patientenverfügung entnehmen können, was es zu tun und zu lassen hat. Sie stellt gleichsam einen Ersatz für die Stimme des urteilsunfähigen Patienten dar, der seinen Willen nicht mehr äussern kann. Damit die Patientenverfügung diese Funktion übernehmen kann, muss sie handlungsweisend sein. Eine handlungsweisende Patientenverfügung definiert klar, in welcher gesundheitlichen Situation welche Massnahmen nicht durchgeführt werden sollen. Damit leistet die Verfügung einen wichtigen Beitrag für die Erstellung des Behandlungsplans für die urteilsfähige Patientin. Gleichwohl ist eine Patientenverfügung noch kein Behandlungsplan. Sind die Kriterien der Situationsbezogenheit und der Massnahmenbezogenheit nicht erfüllt, ist die Patientenverfügung zu allgemein gehalten und damit nicht verbindlich.

Qualitätskriterien für Patientenverfügungen?

In der Schweiz – wie auch im Ausland – besteht eine grosse Vielfalt an Patientenverfügungsformularen, mit teilweise erheblichen Qualitätsunterschieden. Gestützt auf unsere Erfahrung in der Beratung beim Erstellen und Umsetzen von Patientenverfügungen sowie auf die provisorischen Ergebnisse einer laufenden Studie zur Bestimmung evidenzbasierter Qualitätskriterien für Patienteninformationsmaterialien, die Dialog Ethik im Auftrag einer ärztlichen Dachorganisation durchführt, sollten Patientenverfügungsformulare und die dazugehörenden Entscheidungshilfen u.a. folgende Güterkriterien genügen:

  • Die häufigsten Situationen der Urteilsunfähigkeit aufführen.
  • So gestaltet sein, dass die Anordnungen das Kriterium der Situations- und Massnahmenbezogenheit erfüllen sowie zu keinen widersprüchlichen Äusserungen führen.
  • Den rechtlichen Bestimmungen nicht widersprechen.
  • Eine klare Gliederung haben und
  • eine allgemeinverständliche Sprache verwenden.
  • Zugleich sollen die Formulare medizinisch präzis formuliert sein, damit bei der Umsetzung der Patientenverfügung keine Missverständnisse bei den medizinischen Fachpersonen entstehen.
  • In der zur Patientenverfügung gehörenden Entscheidungshilfe sollen die Verfügenden Informationen zur Entwicklung des Gesundheitszustands bei der Umsetzung und Unterlassung intensiv-medizinsicher Massnahmen, sowie Notfallmassnahmen finden.
  • Die Informationen sollen keine bestimmte Meinung wiedergeben, sondern wertneutral verfasst sein, sich dabei um eine ausgewogene Faktendarstellung bemühen und wissenschaftliche Quellen verwenden.
  • Den Patientenverfügungsformularen sollte ein Konzept der Arzt-Patienten-Beziehung zugrundliegen, die eine Begegnung auf Augenhöhe zwischen den Patienten und ihrer Vertretung einerseits und den medizinischen Fachpersonen andererseits fördert.

 

Unterschiedliche Güterkriterien von Patientenverfügungen in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich

Seit 2013 bzw. seit 2009 sind Patientenverfügungen in der Schweiz bzw. in Deutschland für das Behandlungsteam rechtsverbindlich, wenn die Verfügungen nicht etwas verlangen, das gegen das Gesetz verstösst und dem Willen des urteilsunfähigen Patienten entsprechen. In Österreich kann eine verbindliche Patientenverfügung hingegen nur nach vorausgegangener Aufklärung durch eine Ärztin und nach notarieller Beglaubigung durch eine Rechtsperson erstellt werden.

Eine Patientenverfügung soll nicht im „stillen Kämmerlein“ erstellt werden

Verfügungen sind keine Bagatelle. Sie können direkt handlungsweisend sein, um eine komplexe Situation mit einem hohen Betreuungsaufwand zu gestalten oder umgekehrt die Entscheidung zu treffen, lebenserhaltende Massnahmen abzusetzen oder gar nicht erst einzuleiten. Angesichts ihrer Tragweite wäre es im Falle einer konkreten Krankheitssituation fahrlässig, eine Patientenverfügung ohne ein ausführliches Gespräch mit dem Hausarzt oder der betreuenden Ärztin zu erstellen. Denn eine Patientenverfügung ist nicht Ersatz, sondern Ergebnis eines Dialogs mit dem betreuenden Arzt, der vertretungsberechtigten Person und den nächsten Angehörigen. Eine gute Arzt-Patienten-Interaktion vereint ärztliche Fürsorge und Patientenautonomie.

Wie sieht es bei antikoagulierten Patienten aus?

Auch die Frage der Antikoagulation am Lebensende soll mit dem behandelnden Arzt thematisiert werden - obwohl Medikamente, die ein kürzlich symptomatisch sehr belastendes Symptom verhindern (z.B. eine Lungenembolie), am Lebensende fortgeführt werden. Im Zentrum steht eine individuelle Risikoabwägung unter Berücksichtigung der Grund- und Begleiterkrankung. Es gilt das Einblutungsrisiko vs. Thromboembolierisiko gegenüberzustellen. Dieser Abwägungsprozess ist wichtig, weil nicht immer Patienten im Zusammenhang mit der Antikoagulation ein umfassendes Wissen in Bezug auf die Sicherheit haben. Die Möglichkeiten der modernen Medizin machen das Lebensende zu einer Zeit, die gestaltet werden muss.

Handlungsweisende Patientenverfügungen sind ein gutes Instrument diese Zeit entsprechend den Wünschen des urteilsunfähigen Patienten zu gestalten.

Weitere Informationen

Damit Verfügende klare und differenzierte Anordnungen treffen können, hat das Institut der Stiftung Dialog Ethik mit verschiedenen Partnerorganisationen krankheitsspezifische Patientenverfügungen erarbeitet. Neu bietet Dialog Ethik Verfügenden eine komplette Vorsorgelösung an bestehend aus Patientenverfügung, Vorsorgeauftrag, Anordnungen für den Todesfall, Testament und Checkliste für die Regelung des digitalen Nachlasses. Seit bald zwanzig Jahren unterstützt das Institut Verfügenden mit Beratungen bei der Erstellung von Patientenverfügungen. Auch begleitet Dialog Ethik Spitäler und Heime im Umgang mit Patientenverfügungen.

Kontakt: Stiftung Dialog Ethik, Interdisziplinäres Institut für Ethik im Gesundheitswesen; Lic. phil. und MAS Patrizia Kalbermatten; Leiterin Fachbereich Patientenverfügung und Arzt-Patienten-Dialog; Schaffhauserstrasse 418; CH-8050 Zürich; pkalbermatten@dialog-ethik.ch; www.dialog-ethik.c